„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, soll einmal ein weiser Mann empfohlen haben. Als ich an einem frühen Montagmorgen vor dem Münchener Flughafen meine fahrbaren Untersätze für die nächsten drei Tage erspähe, bin ich endlich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben: drei Tage lang den Job links liegen zu lassen und kein Vehikel unter 560 PS bewegen zu müssen.
Eingerahmt von einem Audi RS7 Sportback und einem Audi RS6 Avant zieht der Lamborghini Aventador LP700-4 in signalorange die Blicke auf sich. Ganz klar: der Lambo stellt den offensiven Kontrast zu den optisch zivilen RS-Modellen aus dem Hause Audi dar. Der Kampfstier macht bereits im Stand unmissverständlich seinen Führungsanspruch klar. Der will nicht spielen, der will bei den Hörnern gepackt werden.
Strategisch geschickt wähle ich zunächst den Audi RS7 Sportback. Sollen sich doch die anderen Blogger mit der vermutlich bedingt komfortablen Sportwagen-Flunder durch den Verkehr Richtung München quälen. Die Sitzheizung auf volle Pulle an diesem sonnigen aber grimmig kalten Morgen spielt der RS7 seine Stärken aus: der 560 PS-Dampfhammer lässt sich entspannt durch den Stop & Go-Verkehr gondeln. Die Ruhe vor dem Sturm.
Perfekt getimed übernehme ich auf der letzten deutschen Teiletappe den Lamborghini Aventador. Die Begleitumstände (leere Autobahn, drei Spuren, Tempolimit aufgehoben) malen ein diebisches Grinsen in mein Gesicht. Das Cockpit in Kampfjet-Design mahnt: das hier ist keine Übung, das ist bitterer Ernst. Entsprechend muss auch der Startknopf zunächst entriegelt werden: unter einer roten Abdeckung befindet sich Knopf, der das 700 PS-Triebwerk zum Leben erwacht. Ich wische mir noch einmal die Hände ab, justiere meine Sonnenbrille (stilecht Carrera „Champion“) und umfasse entschlossen das Wildleder-ummandelte Lenkrad.
Mit einem beherzten Zug am riesigen rechten Schaltpaddel schalte ich in den ersten Gang und tippe das Gaspedal an. Etwas widerwillig setzt sich der Kampfstier in Bewegung. Nun gut, für den Stop & Go-Verkehr im Pendlerverkehr ist der Lamborghini Aventador LP 700-4 wirklich nicht gemacht. Noch im ersten Gang lenke ich auf der Raststätte Richtung Autobahnauffahrt hin und her, um das Auto zumindest etwas besser kennenzulernen: die Lenkung arbeitet sehr direkt, etwas schwergängig. Wankneigung? Fehlanzeige.
Die Beschleunigungsspur ist – wie einigen, wenigen Verkehrsteilnehmern bekannt sein dürfte – zum Beschleunigen da, und selten hat das jemand so wörtlich genommen. Ich trete das Gaspedal durch. Der V12-Mittelmotor tritt mir unmittelbar geradewegs ins Kreuz. Mannomann, so fühlen sich also 700 allradgetriebene PS an, wenn sie auf knappe 1,6 Tonnen Auto losgelassen werden. Verantwortlich für das verhältnismäßig geringe Gewicht zeichnen zahlreiche Leichtbaumaßnahmen. Die Karosserie besteht zu einem großen Teil aus ultraleichtem kohlefaserverstärktem Kunststoff (CFK). Das Soundmassiv, das sich wenige Zentimeter hinter mir breit macht, ist nicht von dieser Welt. Der Supersportler röhrt und schreit, der Sound gipfelt in einem fauchenden Crescendo bei voll ausgedrehten Gängen. Wen interessieren da schon Spritsparmaßnahmen wie „Start-Stopp-Automatik“ oder „Cylinder-On-Demand-Technologie“, die auch schon in den italienischen Supersportwagen Einzug gehalten haben?
Von Sekunde zu Sekunde wächst das Vertrauen in den Lamborghini Avebtador LP700-4. Dank Kohlefaser-Voll-Monocoque verfügt der Lamborghini Aventador über eine extrem hohe Steifigkeit. Der Kampfstier setzt Lenkbefehle höchst präzise um, ohne zu leichtgängig zu arbeiten. Federung und Dämpfung nach dem Pushrod-Prinzip wurden aus dem Motosport übernommen. Der obere Querlenker betätigt die liegend eingebauten Feder-Dämpfer-Einheiten von Öhlins über Kniehebel. Vorteil dieser Konstruktion: ein besseres Ansprechverhalten und geringere ungefederte Massen.
Selbst in höheren Geschwindigkeiten stellen andere Verkehrsteilnehmer, die die linke Spur plötzlich für sich entdecken, keine Gefahr dar: die Kohlefaser-Keramik-Hochleistungsbremsanlage (Bremsscheiben vorne 400 Millimeter Durchmesser, hinten immerhin noch 380 Millimeter) verzögert so brutal, dass die erreichte Bewegungsenergie innerhalb kürzester Zeit auf ein akzeptables Maß runtergedampft wird.
Gangwechsel gelingen ultraschnell. Laut Lamborghini-Angaben innerhalb von 50 Millisekunden. Dafür verantwortlich zeichnet eine neue Kraftübertragung, die zusammen mit dem italienischen Zulieferer Graziano Trasmissioni entwickelt wurde. Die geringen Schaltzeiten werden durch die besondere Konstruktion des Getriebes ermöglicht, die „Independent Shifting Rod“ (ISR) genannt wird und bei dem noch während die eine Schaltstange den einen Gang herausnimmt, die zweite Schaltstange den nächsten Gang bereits einlegen kann. Insgesamt soll das Lamborghini-ISR-Getriebe um rund 40 Prozent schneller schalten als das bereits recht fixe e.gear-Getriebe im Lamborghini Gallardo.
Nach dem Full-Speed-Part in Deutschland ist Kurvenjagen auf zum Teil wunderbar geschwungenen Landstraßen durch die Alpen in Österreich und das nördliche Italien angesagt. Der Lambo filetiert Kurven mit der Präzision eines Skalpells, die Traktion ist einfach unfassbar. Angeführt vom schnellen Italiener macht die Roadtrip-Belegschaft Kilometer um Kilometer gut. Und das müssen wir auch, hängen wir doch bereits nach 320 Kilometern zum Lunch in Bozen recht deutlich im Zeitplan hinterher.
Auf unserer Rallye durch das weitere Norditalien werden wir immer wieder aufgehalten von den wenig attraktiven und Zeit raubenden Mautstationen. Nach insgesamt 615 Kilometern rollen wir abgekämpft aber glücklich endlich durch die regennassen Gassen unseres Tagesziels Bologna.
Paolo, seines Zeichens Inhaber der „Trattoria Buca Manzoni“ freut sich trotz Verspätung uns zu sehen. Bereits nach dem Willkommensgruß ist klar: die Verständigung an diesem Abend wird kein Kinderspiel. Paolo ist stolzer Italiener und kann (?) und/oder will partout nur italienisch mit uns sprechen. Da sich keiner der Roadtrip-Teilnehmer als des italienisch mächtigen erweist, wird gestenreich mit Brocken auf spanisch, deutsch und französisch kommuniziert. Größtenteils vergeblich. Der Kosmopolit 2.0 lächelt nur milde, hat der doch Google-Translate (deutsch-italienisch) in Verbindung mit einem Smartphone für sich entdeckt. Weltmännisch wird das Telefon gereicht, der Kellner wird ja wohl noch lesen können.
Das Essen ist dennoch kaum zu toppen. Allein der als Appetizer firmierende erste Gang für mich, bekennender Vegetarier, erreicht ungekannte Ausmaße: auf sechs (!) Tellern hat Paolo aufgefahren, was die italienische Vorspeisen-Küche zu bieten hat. Immerhin kann ich im Rahmen eines rund zehnminütigen Gesprächs erfahren, dass es sich tatsächlich lediglich um einen Appetitanreger und nicht das komplette Menü handelt. Am nächsten Tag erfahre ich von Valentina, der Marketing Managerin von Ducati, dass Italiener grundsätzlich offenbar größtes Mitleid mit Vegetarieren hätten und man vermutlich Angst gehabt hatte, mich mit dem wenig nahrhaften Grünzeug nicht satt zu kriegen.
Auch dafür sind Roadtrips gut: man lernt immer etwas Neues…